Bericht zum 24. Gender-Workshop „Geschlechterforschung zu Japan“

01.02.2018

Schwerpunktthema: Krise, Resilienz und Geschlecht

Katharina Hülsmann und Anna-Lena von Garnier, Modernes Japan, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Am 30. und 31. Oktober 2017 fand der Gender-Workshop „Geschlechterforschung zu Japan“ zum 24. Mal im Rahmen der Jahrestagung der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung in Wien statt. Diesjähriges Schwerpunktthema war „Krise, Resilienz und Geschlecht“. Am ersten Tag des Gender-Workshops wurden Beiträge vorgetragen, die sich besonders auf dieses Schwerpunktthema bezogen, während im Rahmen der Open Session am zweiten Tag themenunabhängig aktuelle Projekte im Bereich der japanbezogenen Geschlechterforschung vorgestellt wurden. Die Koordination und Moderation des Workshops wurden in diesem Jahr von Katharina Hülsmann und Anna-Lena von Garnier (beide Universität Düsseldorf) übernommen.

Im ersten Vortrag stellte Prof. Dr. Ulrike Nennstiel ihre Analyse der Ursachen für Armut in Ein-Eltern-Familien vor und ging der Frage nach, inwieweit es betroffenen Müttern oder Kindern möglich ist, aus der Armut zu entkommen. Sie zeigte auf, dass Kindesarmut in Japan mittlerweile nahezu jedes sechste Kind betrifft und dass 50% der Alleinerziehenden unterhalb der Armutsgrenze leben. Dabei ist wichtig zu beachten, dass es sich bei diesen in Armut lebenden Alleinerziehenden vorwiegend um Mütter handelt, da das Einkommen allein erziehender Väter im Durchschnitt doppelt so hoch ist wie das alleinerziehender Mütter. Demnach wirkt sich die Erwerbstätigkeit im Falle von alleinstehenden Müttern nur geringfügig auf das Armutsrisiko der Haushalte aus. Prof. Nennstiel zeigte auf, dass Resilienz bei betroffenen Kindern in Ein-Eltern-Familien vor allen Dingen im schulischen Kontext durch Erzieherinnen und Lehrerinnen oder Unterstützung durch ältere Schüler (senpai) begünstigt wird. Allerdings wies sie auch darauf hin, dass die Betonung der Wichtigkeit von Resilienz auf Seiten der prekär lebenden Ein-Eltern-Familien auch eine Zustimmung zu neoliberalistischen Konzepten bedeutet und es nach wie vor so ist, dass politische Entscheidungen von Männern getroffen werden, die mit dem Bild der finanziell abhängigen Ehefrau zufrieden sind.

Die beiden folgenden Vorträge stellten literaturwissenschaftliche Forschung über die Darstellung prekärer Familien und prekärer Arbeitsverhältnisse in der gegenwärtigen japanischen Literatur vor. Der Vortrag von Maren Haufs-Brusberg stellte einen Teil ihres Dissertationsprojekts vor, in dem sie sich mit der Konstruktion von geschlechtlichen und ethnischen Identitäten in der japankoreanischen Gegenwartsliteratur beschäftigt. Im von ihr untersuchten Werk Saihate no futari (1999) von Sagisawa Megumu geht es um die Protagonistin Mia, die einer japanisch-amerikanischen Familie entstammt und somit durch eine ethnische Differenz markiert ist. Außerdem geht sie einer ungeregelten Arbeit als Hostess nach. Mit der anderen zentralen Figur des Romans, Pak, der selbst Japankoreaner und in zweiter Generation hibakusha des Atombombenabwurfs ist, geht Mia eine romantische Bindung ein und versucht so, ihr Ideal einer Familie die Geborgenheit spendet zu verwirklichen. Haufs-Brusberg zeigte auf, dass einerseits der Blick der patriarchalischen japanischen bzw. koreanischen Gesellschaft erhalten bleibt, insofern, dass die Protagonistin die Schuld für ihre eigene Verwahrlosung und Marginalisierung in erster Linie ihrer Mutter anlastet. Andererseits bietet der Roman auch eine alternative Konstruktion von Familie an, da das Idealbild einer Familie nicht mehr nach formalen Kriterien konstruiert wird, sondern Geborgenheit vor allen Dingen durch emotionale Bindungen entsteht.

Im dritten Vortrag schließlich stellte Dr. Ronald Saladin seine Analyse des Romans Konbini Ningen (2016) von Murata Sayaka vor. Saladin untersuchte das Werk auf Verhandlungen von Diversität im Umfeld von Arbeit und Japan. Die Protagonistin des Romans, Furukura Keiko, ist eine 36-jährige freeter, die seitdem sie 18 Jahre alt ist im konbini (Convenience Store) arbeitet. Im Werk werden die Abläufe im Arbeitsplatz konbini auf sehr detaillierte und realistische Weise geschildert und gleichzeitig auch die Auswirkungen dieses stark reglementierten Arbeitens auf die Protagonistin festgehalten. So beschreibt sich die Protagonistin selbst teilweise als ein entmenschlichtes Werkzeug, das wie ein Maschinenteil oder Zahnrad im Gefüge des Arbeitsplatzes fungiert. Andererseits ist für die Protagonistin, die das herkömmliche weibliche Rollenideal nicht umsetzen kann, die Arbeit im konbini ihre einzige Möglichkeit, zu einem sozialen Wesen zu werden, da bei dieser Arbeit bis ins kleinste Detail vorgeschrieben ist, wie sich Angestellte zu verhalten haben. In der Diskussion wurde gemutmaßt, ob die Protagonistin möglicherweise als neurodivergent zu interpretieren ist, da sie in sozialen Kontexten außerhalb des Arbeitsplatzes Schwierigkeiten hat, sich angemessen zu verhalten. Zudem sind die Darstellungen des Arbeitsplatzes konbini im Werk nicht negativ gezeichnet, wie dies beispielsweise in der proletarischen Literaturbewegung der Fall ist. Saladin deutet so die Erfüllung der sozialen Unzulänglichkeiten, die die Protagonistin durch ihre Arbeit im konbini erfährt, als eine positive Darstellung und den konbini als eine Quelle der Selbstfindung und Weiterentwicklung für die Protagonistin. Der Arbeitsplatz konbini wird so in Konbini Ningen gerade durch die Gleichschaltung der dort arbeitenden Menschen zu einem Ort, an dem Diversität paradoxerweise existieren kann.

Die Open Session am zweiten Tag des Workshops begann mit dem Vortrag von Jasmin Rückert, die sich mit Sexualaufklärung im terebi dorama anhand des Beispiels Gakkô ja oshierarenai! beschäftigte. Hierbei gab sie zunächst einen Überblick über Sexualaufklärung an japanischen Schulen und die Bemühungen, das Wissen von Jugendlichen über Sex staatlich zu regulieren. So wird an Schulen hauptsächlich über Reproduktion und sexuell übertragbare Krankheiten gesprochen, nicht jedoch über soziale und emotionale Aspekte von Sexualität sowie Homosexualität oder LGBT. Als weitere Orte der Wissensvermittlung arbeitete Rückert Pornographie, das Internet, Freunde und Populärkultur heraus, obwohl hier auch eine Form der Regulierung stattfindet, indem beispielsweise Boys Love-Mangas aus Bibliotheken entfernt werden und feministische Kunst teils strafrechtlich verfolgt wird. Terebi dorama beschäftigen sich hauptsächlich mit Liebe und Romantik, teilweise aber auch mit Sex – so wie die Serie Gakkô ja oshierarenai!. Dort geht es um eine Mädchenschule, auf der aufgrund geringer Schülerzahlen nun auch Jungen angenommen werden. Um diese Jungen in die Schule zu integrieren, initiiert eine Lehrerin einen Tanzklub mit fünf Pärchen, die im Lauf der Serie verschiedene sexuelle Erfahrungen sammeln. Zu den Themen der Serie zählen Masturbation, das erste Mal, Schwangerschaft, Abtreibung und Homosexualität, aber auch nicht sexuelle Themen wie Mobbing und Suizidalität. Rückert arbeitete heraus, dass die angesprochenen Themen zwar sehr progressiv sind, die Umsetzung jedoch teilweise konservativ – so werden weibliche homosexuelle Figuren durch den androzentrischen Blickwinkel der Serie sexualisiert, während die männliche homosexuelle Hauptfigur desexualisiert wird und als einziger zum Ende der Serie keinen Partner gefunden hat. Abweichendes Sexualverhalten wird zudem in Paarbeziehungen aufgelöst und Sexualität insgesamt privatisiert – d.h., sie wird auf persönlicher Ebene dargestellt, nicht aber auf gesellschaftlicher. Rückert kam zu dem Schluss, dass diese Widersprüche den gesellschaftlichen Diskurs widerspiegeln.

Im zweiten Vortrag beschäftigte Timo Thelen sich mit den ama-Taucherinnen in der Präfektur Ishikawa. Diese erlangten durch diverse Forschungsarbeiten während der 1950er Jahre Bekanntheit im Westen und kamen so unter anderem in dem Film „Man lebt nur zweimal“ aus der James Bond-Reihe vor. Die frühen Forschungsarbeiten warfen jedoch einen orientalistischen, männlichen Blick auf die Taucherinnen und stilisierten sie so als exotische Meerjungfrauen. Insgesamt gibt es in Japan mehrere Gruppen von ama-Taucherinnen, ihre Anzahl geht jedoch stark zurück und das Durchschnittsalter liegt mittlerweile bei ca. 60 Jahren. Thelen führte im Rahmen seiner Dissertation qualitative Interviews mit den ama aus der Gemeinde Wajima/Hegura, wo es noch ca. 215 aktive Taucherinnen gibt. Hierbei legte er einen Fokus auf die Aspekte „Gender“ und „Arbeit“. Durch sinkende Marktpreise und schwindende Ressourcen sind die ama von Prekarisierung bedroht. Die Insel Hegura verzeichnet einen starken Bewohnerrückgang, und auch Revitalisierungsmaßnahmen der Regierung konnten dem bisher nicht entgegen wirken. Die ama aus Wajima/Hegura grenzen sich stark von anderen ama-Gruppen ab, vor allem von den ama aus der Präfektur Mie, die Shows für Touristen veranstalten und daher als „Show-ama“ bezeichnet werden, im Gegensatz zu der eigenen Gruppe, die als hart arbeitende Frauen dargestellt werden. Auch die mediale Repräsentation, die ama in der Populärkultur regelmäßig als junge, attraktive Frauen zeigt, stößt bei den realen ama auf Ablehnung. In Bezug auf Geschlechterrollen zeigte Thelen auf, dass die Frauen zwar die Taucherinnen sind, die politische Macht in der Gemeinde aber nach wie vor bei den Männern liegt. So sind die Dorf- und Gemeindevorsteher immer männlich, und die Männer entscheiden auch, wann, wo und wie lange getaucht wird. Heteronormative Arbeitsteilung ist auch vorhanden, denn zusätzlich zum Tauchen kümmern die Frauen sich auch um Haushalt und Kinder. Thelen beendete seinen Vortrag mit dem Fazit, dass trotz der Ablehnung sexualisierter Darstellungen und dem selbstbewussten Arbeitsverständnis der ama die traditionellen Geschlechterrollen nicht aufgebrochen werden.

In der Abschlussdiskussion sammelten die TeilnehmerInnen Ideen und Vorschläge für die Gestaltung des nächsten Gender-Workshops, der das 25. Jubiläum darstellt. Hierbei ging es vor allem um die Frage, ob der Workshop sich wieder thematisch an die Haupttagung anschließt oder der Fokus eher auf den Jubiläums-Charakter gelegt wird. Ein Vorschlag lautete beispielsweise, die beiden Gründerinnen, Prof. Michiko Mae und Prof. Ilse Lenz, in einer Podiumsdiskussion darüber berichten zu lassen, was sich kultur- und sozialwissenschaftlich in den letzten 20 Jahren auf dem Gebiet der Genderforschung getan hat. Der nächste Gender-Workshop wird am 22. und 23. November 2018, vor der Jahrestagung der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung stattfinden. Ein Call for Papers wird voraussichtlich im Frühsommer verschickt.